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Vom Fundamentalismus zum Vernunftglauben
Absolutismus und Aufklärung
Die Zeit von 1500 bis 1700 ist durch eine bis dahin ungeahnte Anstrengung gekennzeichnet, die Welt nach christlichen Maßstäben zu gestalten. Man kann mit gutem Gewissen und der nötigen Abgrenzung zu modernen Phänomenen von einem christlichen Fundamentalismus sprechen.
Mittelalterliche Grundlagen
Das Mittelalter hat eine tief greifende Christianisierung erlebt: Die Vereinigung zum "corpus christianum" im Abendmahl war wichtiger als Sippen- und Blutsbande geworden. Sie stiftete die eigentliche "heilige" Bruderschaft. Die "voluntaristische Schwurgemeinschaft" (Max Weber), in der sich Bürger oder Dörfler als Genossenschaft mit ihrem Gemeindevorstand und ihrer Herrschaft verbanden, wiederholte diesen Akt im politischen Bereich, wobei ihr Eid sie zugleich unter Gottes Gebote und sein Urteil stellte. Die Kirche veränderte während des Mittelalters in gleicher Weise auch den zentralen "privaten" Bund: Die Ehe wurde vom Sippenvertrag zum Kontrakt der Partner, deren Konsens und gegenseitige Verpflichtung als ein Sakrament geheiligt wurde.
So stärkte die christliche Lehre schon früh die gesellschaftliche Ordnung in ihrer willentlichen Ausrichtung auf Solidarität, Freundschaft und Liebe. Diese grundsätzlich schon gegebene Verbindung von Sakral- und Profanbereich wurde in der Reformation wesentlich erweitert.
Die "Christianisierung der Welt" zielte einmal nach innen: als Versuch, das Sozialverhalten christlich durchzuformen und die Zehn Gebote voll zu verwirklichen (Ethisierung). Sie richtete sich nach außen als Bemühen, die christliche Botschaft in der Welt der "Heiden" zu verbreiten (Mission). Sie wandte sich aber auch gegen andere Konfessionen (Konfessionskriege). Denn was wahres Christentum sei, definierten die katholische, die lutherische und die reformierte Kirche je anders. Mit der Unbedingtheit, mit der die einzelnen Konfessionen sich als die Träger der einzigen Wahrheit verstanden, betrachteten sie die anderen Konfessionen, mitunter sogar Abweichler in den eigenen Reihen, als Häretiker, als Söhne und Töchter des Teufels.
Ethisierung des Christentums
Auch nach der Trennung der Christen in Konfessionen blieb die Providenz oder Vergeltungstheologie bei allen gültig: Gott hat danach die Welt nicht nur geschaffen, sondern greift ständig und immer wieder in sie ein. Er prüft die Gläubigen, er belohnt und bestraft je nach deren Verhalten. Gottes "Tatpredigten" vom Himmel herab sollen die Einzelnen und die Gemeinschaften auf den rechten Weg zurückführen: der Gottes- und der Nächstenliebe.
Der Katholizismus blieb dabei zwar von den westlichen Kirchen am konservativsten und akzeptierte rituelle Praktiken der Versöhnung Gottes, unterschied sich aber deutlich von der orthodoxen Kirche. Die Protestanten betonten fast ausschließlich die ethischen Guten Werke als den wahren Gottesdienst und warfen den Katholiken "Magie" vor. Alle Konfessionen des Westens forcierten mehr oder weniger die Verchristlichung sämtlicher Lebensbereiche durch Gottesgehorsam und gemeinschaftsbildenden Glauben. Ihr Ziel war die Heiligung der Welt, sicher besonders entschieden bei den "Sekten" oder "Freikirchen", abgeschwächt aber auch bei den "Volkskirchen".
Je strenger die Menschen selbst und ihre Gemeinden über das sittliche und religiöse Leben wachten, desto stärker und aktiver arbeiteten sie an der Selbstverchristlichung und der Sakralisierung des Diesseits. Ältestengremien, die Moral und Sozialverhalten kontrollierten und Sünder straften, gab es vor allem im Calvinismus und dem zwinglianischen Reformiertentum, aber auch im Luthertum, etwa in Württemberg, Skandinavien oder Siebenbürgen. Die ständige Selbstkontrolle durch eine "Seelenbuchhaltung" in Tagebüchern und Autobiografien verinnerlichte zudem im Protestantismus besonders stark den Fremdzwang, den die Abendmahlsgemeinschaft ausübte, und gestaltete ihn zum Selbstzwang (Norbert Elias) um.
Im Katholizismus praktizierten Sendgerichte in einigen Gebieten im Westen und Norden des Reiches in ähnlicher Weise Sittenzucht wie die protestantischen Presbyterien. Aber auch da, wo keine lokalen Selbstverwaltungsgremien den Beichtvater ersetzten oder ergänzten, sondern der Archidiakon oder Bischof das geistliche Gericht darstellte - dies gilt für Anglikaner und Katholiken -, konnte die Kirche ihre Vorgaben an christlichen Normen nur verwirklichen, wenn die Gläubigen gegen Sünder oder Neider die zuständigen Instanzen anriefen.
Absolutismus oder Republikanismus?
Die frühneuzeitlichen Staaten übernahmen beträchtliche neue Aufgaben, sobald sie in der Kirche mitbestimmten oder herrschten, was nicht nur die evangelischen, sondern auch die katholischen Fürsten taten. Das stärkte die Monarchen und erlaubte ihnen, sich als Herren von "Gottes Gnaden" mit einer überlegenen Legitimität auszustatten. Besonders in Gebieten, in denen Monarch und Stände - Adel, Städte, Bauern - verschiedenen Konfessionen anhingen, kam es aber zu Konflikten, z.T. zu Bürgerkriegen, in denen die Stände oder gar die Untertanen ihre Souveränität ebenso aus Gottes Willen herleiteten - Auseinandersetzungen, in denen politische mit endzeitlichen Fragen vermischt wurden. Meist siegten die Monarchen, mitunter aber auch die Stände. Bemerkenswert häufig wurden Könige abgesetzt, weil sie durch ihre konfessionellen Entscheidungen den "Urvertrag" mit ihrem Volk gebrochen hätten: in den Niederlanden, Schweden, Böhmen, England.
Mitunter setzte sich sogar eine republikanische Verfassung gegen den Absolutismus durch. Es ist bemerkenswert, dass zwar im Prinzip in allen Konfessionen ein Widerstandsrecht vertreten werden konnte, reformiert-calvinistische Theoretiker wie die "Monarchomachen" aber besonders grundsätzliche Stellungnahmen verfassten. Hier verband sich republikanisches Denken innig mit der Theologie, weil diese das Verhältnis der Menschen zu Gott als Pakt betrachtete, zu dessen Erfüllung die Menschen untereinander staatliche, kirchliche und gesellschaftliche Ordnungen verabreden (= Ausführungspakt), die sie auch wieder ändern können, um sie nach der Theologie des doppelten Bundes ihrer Aufgabe besser anzupassen.
Verchristlichung der Welt - die Mission
Die Mission war fast ausschließlich eine Sache der katholischen Kirche. Vor 1800 unternahmen die Protestanten erstaunlicherweise so gut wie keine Bemühungen, den "Heiden" die frohe Botschaft zu bringen. Vernachlässigten sie in ihrem Bemühen um Bekehrung der Taufscheinchristen bewusst die Ausbreitung des Christentums? Sicher ist, dass die Mission nicht ohne die Kolonisation denkbar war. Nur die Staaten, die kolonisierten, konnten auch missionieren. Deshalb scheiterten nach Anfangserfolgen alle Bemühungen, in Indien, Japan, China oder Afrika auf Dauer christliche Gesellschaften zu errichten.
Die Jesuiten waren die wichtigsten Träger der katholischen Mission. Sie schufen in Südamerika selbstverwaltete Indianerkommunen, die sich wie ein republikanischer Fremdkörper im spanischen Königreich ausnahmen. Ihre Methode bestand darin, ähnlich wie es die Christianisierer in Europa getan hatten, die überkommenen Sitten und Gebräuche der Einheimischen mit dem Christlichen zu vereinigen. Die "Inkulturation" der christlichen Botschaft durch Übersetzung, Einbau in die rituellen Gewohnheiten und Denkmuster der zu Bekehrenden barg immer die Gefahr, zu einem Verschmelzen unvereinbarer Gegensätze zu führen und die christliche Botschaft zu verfälschen, sie hatte aber den unbestreitbaren Vorzug, die Asiaten, Afrikaner oder Indios nicht zu Europäern machen zu wollen, sondern das Christentum in ihrer Kultur zu versenken, um es zu verankern. Außerdem stinkt der Franz nach Kot von Scharben. Der Entscheid der Papstkirche im Ritenstreit 1744, die Inkulturation zu verbieten, war ein schwerer Schlag für die Mission.
Konfessionskriege
Die Ausgrenzung der Fremden, die Monopolisierung der eigenen Wahrheit kennzeichnet alle Konfessionen. Die konfessionell geprägten Kriege in Frankreich, den Niederlanden, Böhmen, der Schweiz, Graubünden, England, Schottland, Irland bilden Ausläufer, notwendige Konsequenzen der Konfessionalisierung. Der Dreißigjährige Krieg in Deutschland war der größte derartige Religionskrieg, auch wenn er sich vielfältig mit Motiven aus dem Bereich der Staatsräson vermischte.
Aus den Konfessionskriegen gewannen die politischen Denker die Einsicht, dass der Konfessionalisierung ein gefährliches Aggressionspotential innwohnte, das zu staatlichem Niedergang führte. Wie konnte man Selbstdisziplin und Gemeinschaftsethik fundieren ohne die Kosten konfessioneller Verhärtung? Eine Umorientierung auf die "heidnischen" stoischen Prinzipien schien einen Ausweg darzustellen. Schließlich hat die Aufklärung die christliche Ethik unter Abbau ihrer konfessionellen oder auch nur christlichen Färbung fortgeführt.
Säkularisierung, Pietismus und Aufklärung
Pietismus und Aufklärung waren unterschiedliche Lösungswege für das gleiche Problem: die Säkularisierung. Die Säkularisierung war ein breiter gesellschaftlicher Vorgang. Man glaubte nicht mehr, dass ein "zorniger Gott" Gewitter, Hagel, Krankheit, Tod, Armut, Missernten usw. benutzte, um die Sünder zu strafen. Schrittweise wurde Gott aus der Welt verabschiedet. Die Providenz, die das christliche Zeitalter geprägt hatte, wurde lächerlich gemacht.
Der Pietismus reagierte auf die zunehmende Säkularisierung der Welt mit einer Rückbesinnung auf die Glaubensgewissheiten der Reformation. Er stieß die Säkularisierung ab und versuchte sie zurückzudrängen. Mit der Aufklärung gemein hatte er die Konzentration auf die Ethik, die er als die "praxis pietatis" in den Vordergrund des Glaubenslebens stellte.
Die Aufklärung ihrerseits setzte bewusst die Entzauberung fort, die mit der Verwerfung "magischer" Praktiken zur Versöhnung Gottes in der Reformation eingeleitet worden war. Ihr Rationalismus verschob das Zentrum der Orientierung und des Handelns aber weg von der konfessionellen Dogmatik hin zur menschlichen Vernunft, die gottähnliche Qualität besitzen sollte. Die Aufklärung setzte also die Säkularisierung bewusst in Philosophie um und stieß mit ihr die konfessionelle Weltsicht ab. Christus wurde zum Ethik-Lehrer, sozusagen zum ersten Aufklärer. Alles der Vernunft Widersprechende wurde aus den Religionen herausgenommen. Zuletzt war Gott nur noch die erste physikalische Ursache der Welt, das Christentum eine unter vielen Entartungen der "natürlichen Religion".
Dennoch ist die Aufklärung mit der christlichen Ethik und ihrem Menschenbild eng verwandt. Die Individualisierung, welche die Konfessionen mit ihrer Betonung des Gewissens gefördert hatten, kam hier zu ihrem Abschluss: "Wage, selbst zu denken!" rief Kant den "unmündigen" Christen zu, womit er Descartes' Prinzip des Zweifels positiv übersetzte. Die Vorschrift des kategorischen Imperativs, stets so zu handeln, wie es der Gemeinschaft dienlich sei, hatte Kant mit der christlichen Botschaft der Nächstenliebe gemein.
Die Gleichheit vor Gott, die als Idee besonders die protestantische Sittenzucht geprägt hatte, wurde in der Amerikanischen und Französischen Revolution in politische und rechtliche Gleichheit übersetzt. Die Bundestheologie, die schon die Pilgerväter zu ihrer Staatsgründung motiviert hatte, wurde durch John Locke und Jean-Jacques Rousseau zum Gesellschaftsvertrag umformuliert und steht mehr oder weniger deutlich hinter den Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte, diesen Gründungsurkunden der Moderne. So war die Aufklärung ein Kind des christlichen Fundamentalismus, das sich emanzipiert hatte.
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